Die Zeitapotheke

In der Zeitapotheke stehen die Leute Schlange, geduldig und ohne zu murren. Niemand spricht, nur bisweilen kannst du ein scheues Räuspern vernehmen. Oder das Schurren von Schuhen auf den Marmorfliesen. Manchmal auch tönt ein kitzliges Kichern von irgendwoher aus der Luft.

Draußen mag es Sommer sein oder Herbst oder Frühling – in der Zeitapotheke spürst du davon nichts. Immerfort brennen hoch an der Decke die bleichen Milchglaskugelleuchten. Und das Licht liegt wie Schnee auf den Stirnen der Leute. Nur langsam rückt die Schlange vor.

Seltsame Gestalten kannst du hier sehen – Generäle und Tiefseetaucher, Bischöfe, Waffelbäcker, windige Dichter, auch einen Konzertspielhausdirigenten, und Kohlenträger und Löwendompteure und Agenten mit Geheimschirm, oder aufgedonnerte Kurzrockfriseusen aus dem Pudelschönheitssalon. Alte Dämchen stützen sich auf ihren Krückstock, ein Herr studiert Börsenberichte, ein anderer feilt seine Fingernägel, ein dritter schläft im Stehen.
Vorn aber nimmt der Zeitapotheker die Rezepte schweigend entgegen, geht zwischen Regalen und Schränken umher, zieht lautlos die Schubladen auf. Holt Döschen hervor mit Minutenpillen zum Lutschen gegen Zeitnot, kleine Flaschen voll Sekundentropfen, Tütchen, mit Stundenpulver gefüllt.
„Mein Herr“, flüstert er einem Operntenor vertraulich ins rosige Ohr, „diese Tageszäpfchen dürfen Sie nicht schlucken, die gehören hinten hinein.“
Darauf wendet er sich dem Nächsten zu, einem beleibten Bankdirektor, liest das Rezept mit gerunzelter Stirn und schleppt unter Schnaufen kistenweise Zeittabletten heran.
So rückt die Schlange langsam weiter, ihr Ende verliert sich im Dunkel. Mir scheint es, als stünde die halbe Menschheit in der Zeitapotheke an. Ein jeder, der an der Reihe war, geht glücklich seines Weges, schluckt hastig seine Pillen und Tropfen und stellt sich von neuem an.

Manchmal möchte der Zeitapotheker seinen Laden am liebsten schließen, um irgendwohin in die Ferne zu reisen, wo es keine Uhren gibt. Aber er weiß genau, es wird nichts daraus, nicht einmal Pause darf er machen, muß von früh bis spät die Leute bedienen und für ihn selber bleibt keine Zeit.

Da erklingt das kitzlige Kichern wieder. Die Leute lauschen verwundert. Sie heben die Köpfe und spähen vergeblich nach dem kitzligen Kicherer aus.
Du fragst, wer das ist, ich will es dir sagen, es ist der uralte Engel, der hinten im Himmel aller Jahrmillionen die Weltenuhr aufzieht.

Dezember 1998

Der Luftverkäufer

Luft in Tüten, jede Menge, gibt es bei Jaques, dem Luftverkäufer. Er hat am Stadtpark seinen Stand; ich bin sein bester Kunde.

Wenn’s mir zu heiß wird mitten im Saharasupersommersonnenschein, gehe ich zu Jaques und kaufe eine Tüte Nordpolluft. Dann setz‘ ich mich auf eine Stadtparkbank, steck‘ meine Nase in den Tütenspalt, und schon weht mich ein Hauch grandioser Kälte an. Ich schließe kurz die Augen, sehe eine endlos weite, knirschend kalte Schneeeinöde grimmig im Polarlicht funkeln, höre Eisgebirge krachen, rieche strengen Duft von Lebertran.

Bald fühle ich mich wieder prickelnd frisch, die Himmelshitze kann mir nichts mehr schaden, ich habe ja die Tüte Luft, und ist sie leer, so kaufe ich eben eine neue.

Aber auch noch andere Lüfte findest du, bei Jaques, dem Luftverkäufer. Da gibt es Luft aus Wien, aus Buxtehude, aus Leipzig, London, Lissabon, aus Lappland wie aus Lima, aus Kanada und aus der Mongolei. Für jede Nase ist etwas dabei: Pariser Luft für den Genießer. Der Kenner mag das rauhe Klima der Lofoten. Und mancher Seebär schwört auf eine Südseeprise mit feinstem Meerestanggeruch. Die Weltenbummler lieben die Äquatorwinde, frisch aus der Tüte – das versteht sich wohl. Und Honolululuft macht richtig süchtig nach Hula-Hula und nach Ananas. Dschungeldunst ist eher was für Abenteurer, auch Schwefeldämpfe aus den Kraterschlünden sind begehrt. Der Gruselfreund jedoch kann sich berauschen an Gruftluftduft mit Gruselfuselruß. Gräbst du hingegen eifrig in der Erde nach Muscheln, Schnecken, Ammoniten, dann bietet Jaques dir etwas sehr Spezielles: echte Steinzeitluft aus dem Tertiär, gewürzt mit einem Dinosaurierfurz. Bei Bauchweh, Kopfschmerz oder Gliederreißen hilft Tütennebel, denn der macht unsichtbar, und wer sich nicht mehr sieht, der spürt auch keinen Schmerz.

Nun, hast du Lust auf eine Tüte Luft? Vielleicht aus Hongkong oder von den Philippinen? Was sagst du da, das sei dir alles zu exotisch? Dann kaufe einfach Landluft, die macht froh. Auch Waldluft kann ich dir empfehlen mit ein paar Amseltrillern drin. Und grüne Flußluft stärkt den Appetit.

Am besten gehe selbst zu Jaques und lasse dich von ihm beraten. Nur keine Scheu, er tut das wirklich gern. Er zeigt dir alle seine Tüten, da darfst du schnuppern, stundenlang.

Und solltest du am Ende gar nichts kaufen – das nimmt dir Jaques nicht übel. Er sagt: „adieu“ und pfeift sich eins; er weiß, du kommst bald wieder.

Dezember 1994

Der Salonlöwe

Der Salonlöwe liegt auf der roten Couch und rekelt sich gewaltig, er ist der König hier im Haus, ein jeder fürchtet ihn. Er braucht nur zu brüllen, dann eilen geschwind drei Dutzend Lakaien herbei, um seinen Befehlen ergeben zu lauschen und alle Wünsche ihm zu erfüllen.

Der Salonlöwe trägt seine prächtige Mähne stets nach der neuesten Mode, er hat auch einen eigenen Schneider, der nach Maß ihm Anzüge näht. Seine Zähne sind aus Diamanten gemacht, seine Krallen poliert und geschliffen, du findest keinen einzigen Makel an ihm, er ist eben ein Löwe von Welt.

Am Morgen studiert er die Börsenberichte, gegen Mittag trinkt er gern Whiskey, und nachmittags raucht er gewöhnlich Zigarren, und zwar die dicksten, die es gibt. Zu Abend aber empfängt er Gäste, er gibt ein großes Festbankett, und stolz darf sich schätzen, wem die Ehre zukommt, zu seiner Rechten an der Tafel zu sitzen. Da fließt der Champagner, gleich eimerweise wird Kaviar gereicht, auf Silbertabletts bringen schwitzende Kellner ganze Berge von Delikatessen.

Nun wird gefressen, bis den totschicken Damen die Knöpfe von den Blusen springen, und die Herren verstohlen aus ihren Hosenbünden die ledernen Gürtel entfernen. Später spielt am Klavier ein Pianist, leider hört ihm keiner zu, selbst ein berühmter Tenor bemüht sich umsonst, um den allerhöchsten Ton, denn die Gäste schwatzen mit schrillen Stimmen, einer will den anderen übertönen, doch wenn der Löwe brüllt, sind alle still, schließlich ist er der King im Salon.

Irgendwann geht die Party dem Ende entgegen, der Salonlöwe blinzelt müde, seine Pranken schmerzen in den engen Schuhen, sein Kopf dröhnt vom Alkohol.

Ist er endlich allein, reißt er sich die Kleider in einem Ruck von seinem Leibe, atmet tief durch und trottet danach voller Unrast durch den Salon. Jetzt wirkt er gar nicht mehr königlich, sogar den Kopf läßt er hängen, verflogen ist all seine Eleganz, nur gut, daß ihn keiner so sieht. Er schaut aus dem Fenster hinauf zu den Sternen und träumt sich nach Afrika, wo unter freiem Himmel in einer Savanne eine Löwin ihn umarmt.

Am nächsten Morgen ist er wieder der Alte, er thront stolz auf der roten Couch, erteilt herrisch Befehle und die Wände wackeln von seinem Löwengebrüll. Kein Zweifel, er hat sich recht gut Griff, ein Salonlöwe zeigt keine Schwäche, aber du und ich, wir wissen, daß manchmal ein anderer in ihm steckt.

Januar 2002